28. Oktober 2020
Mama
Es ist der 28. Oktober 2020 – mein Geburtstag. Heute werde ich 32 Jahre alt. An meinem Ehrentag darf ich natürlich ausschlafen. Ich werde erst wach als meine Männer bereits ausgeflogen sind. In Mission „Blumen kaufen“ sind die beiden sehr früh auf dem Wochenmarkt unterwegs. Während ich mich in der Wohnung umsehe und mir den ersten Kaffee eingieße, denke ich:
„Heute ist mein Geburtstag, der Tag am dem ich geboren wurde. Der Tag an dem mich meine Mama auf die Welt gebracht hat. Der Tag, der ihr am allermeisten bedeutet hat, neben dem Geburtstag meines Bruders.“
Bedeutet hat- hallt es in meinem Gedanken nach. Vergangenheitsform.
Seitdem ich selbst Mutter bin ist mir bewusst wie wertvoll sich der Tag der Geburt des eigenen Kindes anfühlt. Der Geburtstag des Kleinen ist auch für mich zum wichtigsten Tag in meinem Leben geworden.
Es war also dieser eine Tag im Jahr, wichtiger für sie als für mich. Nur mit dem Unterschied, dass sie nun nicht mehr hier war, um diesen mit mir feiern zu können. Ein zweites Mal. So viele weitere Mal werden folgen und die Geburtstage, die wir gemeinsam feiern durften, beschränken sich auf die Zahl 30. Davon habe ich wohl nur 20 so richtig erlebt und kann ich mich gerade einmal an die Hälfte wahrhaftig auch erinnern. Das ist zu wenig für mich. Das Kind in mir fühlt sich unfair behandelt, verlangt mach mehr. Doch da ist keine Aussicht auf Besserung, keine Hoffnung, dass sich an dieser Tatsache noch etwas ändern kann, sondern nur Bewusstsein. Eine Klarheit, die mich abermals wie ein Schlag trifft, der mich vollständig ins Wanken bringt.
Auf dem Boden der Tatsachen
Angekommen auf dem Boden der Tatsachen, in meiner Realität, muss ich weinen. Seit meine Mama gestorben ist, bin ich viel weicher geworden. Womöglich nimmt das keiner so richtig wahr, denn meine Hemmschwelle es nach außen zu tragen ist immens groß.
Unaufhaltsam breitet sich dieser Schmerz in mir aus. Ich ermahne mich selbst, dass ich meinen Geburtstag nicht mit Tränen beginnen kann, doch ich bin machtlos. Das Fass ist einfach voll, in Momenten wie diesen läuft es über – immer.
Die ersten Anrufe klingeln auf meinem Handy. Ich ignoriere sie und das obwohl eine meiner besten Freundinnen anruft. Mein Bedürfnis zu klagen ist groß, aber ich tue es nicht. Der Sturm, der in meiner Seele tobt wird von der Außenwelt abgeschirmt. Ich weiß, dass das falsch ist, aber ich kann einfach nicht anders.
Ein Stück Normalität
Mein Geburtstag wird nie wieder so sein wie er einmal war, nie wieder so besonders für jemanden. Es ist ein Tag wie jeder andere. Ich verspüre den Drang alltäglichen Aufgaben nachzugehen. Ablenken, funktionieren. Ich beginne die Spülmaschine auszuräumen… In diesem Moment kommt der Kleine mit seinem Papa die Tür herein. Ich schluckte hart und wende mich einen Moment lang ab. Freudestrahlend werde ich begrüßt und man gratulierte mir. In den Armen von meinem Freund schluchze ich nicht hörbar und verdränge erfolgreich die tiefe Traurigkeit in mir.
Den übrigen Tag denke ich kein weiteres Mal an meine Mama. Er vergeht wie jeder andere Tag im Jahr und Normalität spült davon was mich am Morgen so stark eingenommen hat.
Welch hohen Stellenwert Normalität einmal für mich haben sollte, erkenne ich erst jetzt. Sie hält mich in Balance, stützt und stabilisiert. Meine Familie, die Erfüllung meiner Aufgaben sind essenziell für mich.
03. November 2020
Papa
Es klingelt an der Tür. Luis schläft und wird davon wach. Doch das stört mich ausnahmsweise einmal nicht. Es ist nämlich nicht der Postbote, der mich für die zentrale Annahmestelle des Areals hält. Ich erwarte Besuch von meinem Papa.
Papa läuft mir entgegen und hält seine Hand hinter seinem Rücken. Es folgt eine warme Umarmung und liebevolle Glückwünsche. Er zückt einen Strauß Blumen und überreicht mir ein kleines Päckchen und eine Karte. Luis strahlt über beide Ohren. Mich erfüllt es jedes Mal aufs neue zu sehen wie sehr er seine Familie liebt und das so ungefiltert zeigt.
Ein wenig später sitzen wir am Tisch und ich öffne den Umschlag. In der Geburtstagskarte steht unter anderem geschrieben:
„Egal wie schwer das Leben ist, vergiss niemals, dass Du etwas ganz Besonderes bist.“
Es ist fast ein wenig Ironie des Schicksals, dass ich der Annahme bin mein Geburtstag sei mit dem Tod meiner Mama für niemand anderen etwas derart Besonderes, und dass während ich diese Zeilen hier schreibe mich diese Karte von meinem Papa erreicht. Mein Papa. Ein Elternteil, der zur Hälfte in gleicher Funktion ist wie meine Mama. Natürlich gibt es da noch jemand anderen, für den der Tag meiner Geburt einen hohen Stellenwert hat! Wie ich das vergessen konnte? Diese Tatsache liegt in solchen Momenten außerhalb meiner Wahrnehmung und ich weiß auch weshalb das so ist.
Als ich bei einem psychologischen Beratungsgespräch war meinte die Ärztin zu mir, dass alles in meinem Leben sehr fest verwachsen ist mit meiner Mama. Und ja verdammt damit hat sie echt recht… Mir war das lange gar nicht bewusst, aber es existieren echt viele Abhängigkeiten. Durch ihre fehlende Existenz ist mir nicht nur ein geliebter Mensch, eine Bezugs- und Vertrauensperson abhanden gekommen, sondern alle meine Strukturen sind dadurch aufgebrochen. Um das aufzuarbeiten benötige ich professionelle Hilfe oder besser gesagt, ich denke der Prozess ist effizienter und schneller durchlaufen mit Hilfe eines Profis.
Das Kind in dir muss Heimat finden
In dem Päckchen, welches mir mein Papa überreicht hat, ist ein Buch. Klasse! Ich lese wirklich sehr gerne.
Das Kind in dir muss Heimat finden (hier auf Amazon). Viele von euch kennen das Buch sicher, ich habe jedoch bisher nur davon gehört. Allein der Titel ist schon sehr aussagekräftig, besonders in Anbetracht der Situation wohl das beste Geschenk was mein Papa und meine Stiefmama mir haben machen können.
„Jeder Mensch sehnt sich danach, angenommen und geliebt zu werden. Im Idealfall entwickeln wir während unserer Kindheit das nötige Selbst- und Urvertrauen, das uns als Erwachsene durchs Leben trägt. Doch auch die erfahrenen Kränkungen prägen sich ein und bestimmen unbewusst unser gesamtes Beziehungsleben. Erfolgsautorin Stefanie Stahl hat einen neuen, wirksamen Ansatz zur Arbeit mit dem »inneren Kind« entwickelt: Wenn wir Freundschaft mit ihm schließen, bieten sich erstaunliche Möglichkeiten, Konflikte zu lösen, Beziehungen glücklicher zu gestalten und auf (fast) jedes Problem eine Antwort zu finden.“ (Klappentext)
Eine zweite Chance
Aus Traurigkeit wird Freude. Es fühlt sich komisch an diese beiden Gefühle so im Wechsel zu erleben. Freude, weil ich auf einmal etwas Positives an dem Verlust meiner Mama sehen kann. Und gleichermaßen fühlt es sich total schlecht an das Wort „positiv“ im Zusammenhang mit ihrem Tod zu erwähnen.
Vielleicht habe ich nun die Möglichkeit völlig anders auf meinen Papa zuzugehen. Ich bin jetzt frei von Erwartungshaltungen ihrerseits. Wenn ich nun lerne loszulassen ist es nicht nur eine Art Option, die mir zur Verfügung steht, sondern ich kann dem großen Willen, dass Papa sich nicht nach Elternteil sondern wieder nach Zuhause anfühlen soll, endlich nachgeben.
Ich glaube, dass wir trotz der fehlenden gemeinsamen Zeit unsere Beziehung nun endlich vertiefen können. Wir haben eine neue Perspektive. Eine Chance, die wir so tragisch es auch klingen mag, womöglich erst mit dem Tod meiner Mama erhalten haben. Ja, das ist plötzlich Aussicht auf einen wahrhaftigen Neuanfang mit ihm. Vielleicht beginnt nun was an jenem Tag für sehr lange Zeit plötzlich endete… Ich habe zwar meine Mama verloren, aber darf nun meinen Pebls wieder finden.
Und plötzlich ist da doch wieder Hoffnung. Hoffnung auf dieses einzigarte Gefühl, was nur zwischen einem Kind und seinen Eltern existieren kann. Das Kind in mir wird Heimat finden! Ich glaube daran.
Larissa
13 . 11 . 2020Ich glaube auch daran… und an dich!
Unglaublich Worte und meinen größten Respekt für diese Offenheit.
Ich las den Text mit Pippi in den Augen <3
Larissa
Nadine
12 . 11 . 2020Ganz toll geschrieben! Man spürt richtig wie dir das alles auf der Seele brennt. Ich glaube darüber schreiben kann dir tatsächlich helfen. Wünsch dir alles gute für den Weg und den damit verbundenen Prozess!